Erika Giovanna Klien, 1900–1957
Erika Giovanna Klien wird im Jahr 1900 in Borgo di Valsugana im Trentino geboren, was damals zu Österreich-Ungarn gehört. Sie ist die Tochter eines Beamten und stammt aus einem wohl behüteten kleinbürgerlichen Elternhaus.
Ihr Studium absolviert sie von 1919 bis 1924 an der Wiener Kunstgewerbeschule. An dieser Schule, der späteren Hochschule für Angewandte Kunst, herrscht in der Nachkriegszeit eine enorme Experimentierfreude. Bedeutende Künstler gehören zu den Lehrern der Schule, die sich mit den Strömungen der europäischen Avantgarde, dem Futurismus und Kubismus, dem Konstruktivismus, dem Expressionismus und den Lehren des Bauhaus auseinandersetzen. Klien besucht Kurse bei Victor Schufinsky, Frank Čižek, Rudolf Larisch und Reinhold Klaus.
Besonders wichtig für Erika Giovanna Klien ist der charismatische Reformpädagoge Franz Čižek. Mit der Aufforderung, ihre Emotionen auszudrücken, versucht er jenseits von Stilkonventionen das schöpferische Potential seiner Schülerinnen zu befreien. Čižek ist seit 1904 an der Kunstgewerbeschule als Lehrer tätig. Der Kinetismus entsteht als revolutionäres Experiment unter seiner Leitung: Er unterrichtet in den 1920er Jahren die Klasse zur ornamentalen Formenlehre, sein reformpädagogisches Konzept setzt auf schöpferisches Gestalten (auch frühere Kunst miteinbeziehend), statt blossem Abbilden. Die Anfänge des Kinetismus sind sicherlich im Expressionismus zu suchen, denn der freie Umgang mit Form und Farbe sowie die Fokussierung auf subjektive und individuelle Eindrücke entsprechen Čižeks Ideen. Sein Input, eine eigenständige Rezeption von bisherigen Kunstrichtungen zu suchen, ist ein Novum.
Die Klasse Čižeks besteht vor allem aus Frauen, da sie an der Kunstgewerbeschule im Gegensatz zur Universität bereits zugelassen sind. Zu den Protagonistinnen der Bewegung zählen unter anderem die Künstlerinnen Erika Giovanna Klien, My Ullmann und Elisabeth Karlinsky. Insbesondere Klien entwickelt sich zum «Star» des Kinetismus. Kunst und Leben bildeten für sie eine Einheit, sie verwischt bereits früh die Grenzen zwischen künstlerischer Arbeit und Alltagsleben.
Bereits während ihrer Ausbildung nimmt Klien an diversen Ausstellungen teil und entwickelt ein Interesse für Schauspiel und Marionettentheater. Sie besucht die Schauspielschule und arbeitet an einem kinetischen Marionettentheater. Zeuge davon ist die Zeichnung «(Kinetisches) Marionettentheater» von 1926 (Schwarze Kreide, Bleistift und Kohle auf Papier auf Karton). Das Werk ist stark vom Wiener Kinetismus geprägt: Es ist die Darstellung einer Kunst der Bewegung im Raum, als deren Begründer Franz Čižek gilt.
1925 schliesst Klien ihre Ausbildung zur Kunstpädagogin bei Čižek ab und bezieht ein Atelier in Purkersdorf, an der Stadtgrenze von Wien. In der anschliessenden Zeit arbeitet sie als Gebrauchsgrafikerin und verdient ihren Lebensunterhalt mit der Gestaltung von Spielzeug.
Zwischen 1926 und 1928 unterrichtet Klien an der Elizabeth Duncan School bei Salzburg. 1928 wird ihr Sohn Walter Klien geboren, der bei Pflegeeltern aufwächst. Im Jahr darauf übersiedelt Klien nach New York und lehrt an bedeutenden Kunstschulen wie der Stuyvesant School, Dalton School, New School for Social Research und der Spence School. In den Vereinigten Staaten machte sie auch als Verfasserin theoretischer Schriften über Kunsterziehung auf sich aufmerksam.
1934 reist Klien nach New Mexiko und setzt sich mit der indianischen Kultur auseinander. Hier beginnt sie an der abstrakten Vogelflugserie zu arbeiten. Sie erschafft mittels Licht Animationen eines Vogelfluges für die Bühne, um daraus anschliessend Linolschnitte zu machen. Klien, als Čižeks begabteste Schülerin, entwickelt als einzige seine Ideen auf eigenständige Weise bis an ihr Lebensende weiter und gestaltet prozesshafte Bewegungsabläufe: beispielsweise Tanz, Vogelflug oder abstrakte Bewegungsrhythmen tauchen in den Folgejahren immer wieder als bestimmende Bildthemen in ihrem Werk auf.
1938 nimmt sie die US-amerikanische Staatsbürgerschaft an.
1946 gibt Klien ihre Lehrtätigkeit auf. Sie stirbt 1957 in New York an den Folgen eines Herzinfarktes.
Erika Giovanna Klien, 1900–1957
Erika Giovanna Klien was born in 1900 in Borgo di Valsugana in Trentino, which at that time belonged to Austria-Hungary. She was the daughter of an official and came from a well-protected lower middle-class family.
She studied at the Vienna School of Applied Arts from 1919 to 1924. At this school, which later became the University of Applied Arts, there was an enormous enthusiasm for experimentation in the post-war period. Important artists were among the school’s teachers, who explored the currents of the European avant-garde, Futurism and Cubism, Constructivism, Expressionism and the teachings of the Bauhaus. Klien attended courses with Victor Schufinsky, Frank Čižek, Rudolf Larisch and Reinhold Klaus.
Particularly important for Erika Giovanna Klien was the charismatic reform pedagogue Franz Čižek. By asking her to express her emotions, he tried to liberate the creative potential of his students beyond stylistic conventions. Čižek has been a teacher at the School of Arts and Crafts since 1904. Kinetism emerged as a revolutionary experiment under his leadership: In the 1920s he taught the class on ornamental form theory, his reformist pedagogical concept focused on creative design (including earlier art) instead of mere representation. The beginnings of kinetism can certainly be found in expressionism, because the free handling of form and colour as well as the focus on subjective and individual impressions corresponded to Čižek’s ideas. His input of seeking an independent reception of previous art movements was a novelty.
Čižek’s class consisted mainly of women, as they were already admitted to the School of Arts and Crafts in contrast to the university. Among the protagonists of the movement were the artists Erika Giovanna Klien, My Ullmann and Elisabeth Karlinsky. Klien in particular developed into the «star» of Kinetism. Art and life formed a unity for her, she blurred the boundaries between artistic work and everyday life at an early age.
Already during her education, Klien took part in various exhibitions and developed an interest in acting and puppet theatre. She attended drama school and worked on a kinetic puppet theatre. Witness to this is the drawing «(Kinetic) Marionette Theatre» from 1926 (black chalk, pencil and charcoal on paper on cardboard). The work is strongly influenced by Viennese Kinetism: It is the depiction of an art of movement in space, of which Franz Čižek is considered the founder.
In 1925 Klien completed her training as an art teacher with Čižek and moved into a studio in Purkersdorf, on the outskirts of Vienna. In the following period she worked as a commercial artist and earned her living by designing toys.
Between 1926 and 1928 Klien teached at the Elizabeth Duncan School near Salzburg. In 1928 her son Walter Klien was born and grew up with foster parents. The following year Klien moved to New York and taught at important art schools such as the Stuyvesant School, Dalton School, New School for Social Research and the Spence School. In the United States, she also attracted attention as an author of theoretical writings on art education.
In 1934 Klien traveled to New Mexico and explored the Indian culture. Here she began to work on the abstract bird flight series. She used light to create animations of a bird’s flight for the stage, which she then used to make linocuts. Klien, Čižek’s most talented pupil, was the only one to develop his ideas independently until the end of her life and to create process-like movement sequences: for example, dance, bird flight or abstract movement rhythms appeared again and again in her work in the following years as defining pictorial themes.
In 1938 she became a US citizen.
Klien gave up teaching in 1946. She died of a heart attack in New York in 1957.