Auguste Herbin, 1882-1960

Auguste Herbin stammt aus dem kleinen Ort Quiévy, der in der nordwestfranzösischen Picardie liegt.

Nach Studien an der Ecole des Beaux-Arts in Lille zog Herbin im Jahr 1901 nach Paris, wo er acht Jahre später im legendären Bateau-Lavoir u.a. neben Pablo Picasso, Juan Gris und Guillaume Apollinaire ein Atelier bezog. Wie für viele andere Künstler auch war Cézannes prismatische Zerlegung der Bildmotive ein Schlüsselerlebnis für Herbin. In der Cézanne-Gedächtnisausstellung im Pariser Herbstsalon 1907 wurde ihm klar, dass er seine erst impressionistischen und dann fauvistischen Anfänge zugunsten einer kubistischen Bildsprache aufgeben wolle, die etwas später um 1909 einsetzt.

Mit seiner Ausstellung bei der Gruppe «Section d’Or», 1912, läuft Herbins gegenständlich-kubistische Phase aus, in der zunächst Tiefenwirkung und Räumlichkeit und dann völlige Flächigkeit bei gedämpfteren Farben erreicht werden.

Die Begegnung mit dem Pariser Kunsthändler Léonce Rosenberg sollte für Herbin wegweisend werden, schlossen die beiden doch 1916 einen Vertrag ab, wonach Herbin in dessen Galerie über mehrere Jahre seine Werke in Einzelausstellungen zeigte.

Diese Zeit bis 1924 ist geprägt von verschiedenen Stilphasen.

Die ersten rein abstrakten Bilder, die zwischen 1917 und 1918 aus dem synthetischen Kubismus hervorgehen, sind in der Fläche angelegt, wobei manche Flächen collagenhaft übereinandergeschichtet und frei von Dingbeschreibungen sind. Anders als bei Picasso und Braque, in deren Palette Grau- und Brauntöne dominieren, bevorzugt Herbin eine lebensfrohe ornamentale Farbigkeit.

Um 1919 wendet sich Herbin der reinen Geometrie zu und kreiert vollsymmetrische und zumeist rein geometrische Kompositionen, die sich um eine senkrechte Mittelachse gruppieren; siehe «Composition», 1920, Gouache auf Papier. Er erschliesst neue Forminhalte wie Ornament, Zeichen und Totem, die sich nicht nur in Bildern, sondern auch in phantasievollen dreidimensionalen Wandobjekten manifestieren. Daneben schafft der Künstler aus bemaltem Holz und geometrischen Formen und Raumkörpern totemähnliche Skulpturen, Reliefs und Säulen, um eine Verbindung von Malerei, Plastik und Architektur zu erzielen. Bei diesen originellen Objekten dominieren erdgebundene Farben wie Ocker, Braun, Rostrot und Grün.

Um 1921 kehrt Herbin der Abstraktion für mehrere Jahre den Rücken und wendet sich der Neuen Sachlichkeit zu, die in den 1920er Jahren nicht nur Picassos und Metzingers Bildsprache in Frankreich erreicht, um nur zwei Beispiele zu nennen, sondern vor allem in Deutschland Furore macht. Herbins Landschaften und Stillleben sind formal einfach, aber äusserst präzis und kantig gemalt, was auch auf seine menschlichen Figuren zutrifft, die uniform, kontaktfern und ohne menschliche Regungen untereinander dargestellt sind.

In einem nächsten Schritt, um 1924, gibt Herbin der Sachlichkeit konstruktive Züge, und er komponiert architekturale Landschaften, die auf Präzision und Perspektive, Hell und Dunkel und kräftigen Farben aufgebaut sind; siehe «Le Pont Romain à la Vaison», ca. 1924, Öl auf Leinwand.

Bereits zwei Jahre später trennt er sich gänzlich von der Gegenständlichkeit, um sich von nun an nur noch der Abstraktion zuzuwenden, genährt von der Erkenntnis, dass die Malerei als solche in ihrer Gestalt Wirklichkeit und von Geist erfüllt sei. Ab 1926 verschreibt sich der Künstler fliessenden biomorphen Formen in kräftigen kontrastreichen Farben, dominiert von Rot, Gelb und Schwarz. Herbins bewegte Kompositionen in einem imaginären Raum können sowohl aus vegetabilen als auch aus maschinenähnlichen Formen bestehen. In ihrer Nähe zum Surrealen und ihrer Schattenmodellierung wirken sie trotz ihrer flächigen Malweise plastisch-körperhaft und erinnern an reale Gegenstände; siehe «Composition mouvement», 1930, Öl auf Leinwand.

Über drei Jahre, bis 1933, werden Herbins Bilder dominiert von Streifen und Bändern, die sich labyrinthartig und in Anlehnung ans Geometrische zu Kreisen und Schlingen fügen. 1931 gründete Herbin die Vereinigung “Abstraction-Création” zusammen mit Georges Vantongerloo, Theo van Doesburg, Jean Hélion, Hans Arp und František Kupka. 

Bis 1939 entstehen elegante schwungvolle Formengebilde in intensivem Kolorit, so setzt der Künstler leuchtendes Gelb neben Rot, Pink und Rosa neben Olive, diverse Violettschattierungen neben Blautöne. Diese in der organischen Abstraktion verhafteten Werke mit S-Formen und Schlangenlinien kennen nur Rundungen und Kurven, aber keine Kanten und Ecken.

Dies ändert sich um 1940, wenn Herbin unter dem Titel «Réalités spirituelles» seine harmonischen weichen Kreisformen und Kreissegmente mit spitzen pfeilartigen Dreiecksfiguren kombiniert, die an Kometen, Sternschnuppen und andere Himmelserscheinungen erinnern. So entstehen abwechslungsreiche farbenfrohe Gebilde voller Bewegung und Dynamik.

Bis 1946 taucht Herbin ein in die statische Geometrie der Grundformen: Kreis, Rechteck und Dreieck. Sicher dominiert der Kreis als Rundform wie auch als Kreissegment. Der Künstler verzichtet gänzlich auf jegliche Perspektive und Tiefe und konstruiert rein flächige Kompositionen, die sich zum Teil symmetrisch, siehe «Composition sur le nom Canguilhem», 1942, Gouache und Tusche auf Papier, «Aoum I», 1944, Öl auf Leinwand, oder auch nur scheinbar symmetrisch spiegeln, siehe «Composition sur les mots poire, pomme, peche», 1942, Öl auf Leinwand. In manchen Werken erweitert sich der Formenkanon auf Stern- und Herzsymbole oder auf Komma- und Zahnradfiguren, so dass die reine Geometrie sanft durchbrochen wird. Herbins Farbpalette ist in dieser Schaffensphase überaus reichhaltig und leuchtend.

Bachs «Kunst der Fuge», Baudelaires «Correspondances», Rimbauds Gedicht «Vokale» wie auch Rudolf Steiners anthroposophische Symbolik haben Herbin zu seinem «Alphabet plastique», einer Art Farbe-Form-Ton-Buchstaben-Mystik inspiriert, in der jeder Farbe eine Form, ein Buchstabe und eine Musiknote zugeordnet werden. Zum Beispiel gehört aus Herbins Sicht zur Farbe Rot der Kreis, der Buchstabe E und der Ton C, zur Farbe Orange-Gelb die Kombination von Kreis- und Dreiecksformen, der Buchstabe H und die Töne d und e.

Präziser Aufbau, strenge Geometrie und starke Farben kennzeichnen die oft grossformatigen Leinwände der letzten Jahre. Gemäss Herbin entspricht in dieser abschliessenden kreativen Phase seines Schaffens jeder farbige Ausdruck, jede geometrische Form und jeder Ton einer geistigen Notwendigkeit, welche die Beziehungen der Farben untereinander und die Verbindung der Formen und Farben bestimmt. Ein grossartiges Oeuvre, das aus Geist und Können lebt.

 

Auguste Herbin, 1882-1960

Auguste Herbin originated from the small town of Quiévy, located in the Picardy region of northwestern France.

After studies at the Ecole des Beaux-Arts in Lille, Herbin moved to Paris in 1901, where eight years later he moved into a studio in the legendary Bateau-Lavoir alongside Pablo Picasso, Juan Gris and Guillaume Apollinaire, among others. As for many other artists, Cézanne’s prismatic dissection of pictorial motifs was a key experience for Herbin. At the Cézanne memorial exhibition at the Paris Autumn Salon in 1907, he realized that he wanted to abandon his first Impressionist and then Fauvist beginnings in favor of a Cubist pictorial language that would set in somewhat later around 1909.

With his exhibition with the “Section d’Or” group, 1912, Herbin’s representational cubist phase came to an end, first achieving depth and spatiality and then complete flatness with more muted colors.

The meeting with the Parisian art dealer Léonce Rosenberg was to be groundbreaking for Herbin, as the two signed a contract in 1916 under which Herbin showed his works in solo exhibitions at Rosenberg’s gallery for several years.

This period up to 1924 is characterized by various stylistic phases.

The first purely abstract paintings, which emerged from Synthetic Cubism between 1917 and 1918, are laid out in the plane, with some surfaces layered on top of each other like collages and free of thing descriptions. Unlike Picasso and Braque, whose palette is dominated by gray and brown tones, Herbin prefers a lively ornamental colorfulness.

Around 1919 Herbin turned to pure geometry, creating fully symmetrical and mostly purely geometric compositions grouped around a vertical central axis; see “Composition,” 1920, gouache on paper. He tapped into new formal content such as ornament, sign, and totem, which manifested themselves not only in paintings but also in imaginative three-dimensional wall objects. In addition, the artist created totem-like sculptures, reliefs and columns from painted wood and geometric shapes and spatial bodies to achieve a combination of painting, sculpture and architecture. These inventive objects are dominated by earthy colors such as ocher, brown, rusty red and green.

Around 1921, Herbin turned his back on abstraction for several years and turned to New Objectivity, which not only matched Picasso’s and Metzinger’s imagery in France in the 1920s, to name just two examples, but also caused a furor in Germany in particular. Herbin’s landscapes and still lifes are formally simple, but painted with extreme precision and angularity, which also applied to his human figures, which were depicted uniformly, distant from contact, and without human emotion toward one another.

In a next step, around 1924, Herbin gave objectivity constructive overtones, and he composed architectural landscapes built on precision and perspective, light and dark, and bold colors; see “Le Pont Romain à la Vaison,” ca. 1924, oil on canvas.

Just two years later, he completely abandoned representationalism and from then on turned only to abstraction, nourished by the realization that painting as such was reality in its form and filled with spirit. From 1926 on, the artist devoted himself to flowing biomorphic forms in strong contrasting colors, dominated by red, yellow and black. Herbin’s moving compositions in an imaginary space can consist of both vegetal and machine-like forms. In their proximity to the surreal and their shadow modeling, they appear sculptural and corporeal despite their two-dimensional painting style and are reminiscent of real objects; see “Composition mouvement,” 1930, oil on canvas.

For more than three years, until 1933, Herbin’s paintings were dominated by stripes and ribbons, which, in a labyrinthine manner and in imitation of the geometric, form circles and loops. In 1931 Herbin founded the association “Abstraction-Création” together with Georges Vantongerloo, Theo van Doesburg, Jean Hélion, Hans Arp and František Kupka.

By 1939, the artist had created elegant, sweeping shapes in intense colors, placing bright yellow next to red, pink and rose next to olive, and various shades of violet next to blue. These works with S-shapes and serpentine lines, rooted in organic abstraction, contain only curves and curves, but no edges and corners.

This changes around 1940, when Herbin, under the title “Réalités spirituelles,” combined his harmonious soft circular forms and circle segments with pointed arrow-like triangular figures reminiscent of comets, shooting stars, and other celestial phenomena. This resulted in varied colorful formations full of movement and dynamism.

Until 1946, Herbin immersed himself in the static geometry of the basic shapes: circle, rectangle and triangle. Certainly, the circle dominates as a circular form as well as a circular segment. The artist completely renounced any perspective and depth and constructed purely two-dimensional compositions, some of which are symmetrical, see “Composition sur le nom Canguilhem”, 1942, gouache and ink on paper, “AOUM I”, 1944, oil on canvas, or only seemingly symmetrical, see “Composition sur les mots poire, pomme, peche”, 1942, oil on canvas. In some works, the canon of forms expands to include star and heart symbols, or comma and gear figures, so that pure geometry is gently broken through. Herbin’s color palette in this creative phase is exceedingly rich and luminous.

Bach’s “Art of Fugue,” Baudelaire’s “Correspondances,” Rimbaud’s poem “Vowels,” as well as Rudolf Steiner’s anthroposophical symbolism inspired Herbin to create his “Alphabet plastique”, a kind of color-shape-sound-letter mysticism in which each color is assigned a shape, a letter, and a musical note. For example, from Herbin’s point of view, the color red includes the circle, the letter E, and the note C; the color orange-yellow includes the combination of circular and triangular shapes, the letter H, and the notes d and e.

Precise structure, strict geometry and strong colors characterize the often large-format canvases of recent years. According to Herbin, in this final creative phase of his work, every colorful expression, every geometric shape and every tone correspond to a spiritual necessity that determines the relationships of the colors to each other and the connection of the shapes and colors. A great oeuvre that lives from spirit and skill.