Vera Molnár, 1924-
Vera Molnár wird 1924 in Budapest geboren. Ohne Geschwister wächst sie in einem bildungsbürgerlichen Haushalt auf. Von 1942 bis 1947 studiert sie Malerei, Kunstgeschichte und Ästhetik an der Budapester Kunsthochschule. Molnár erhält ein Stipendium, das ihr einen Aufenthalt in Rom ermöglicht. Weil sie von moderner, zeitgenössischer Kunst umgeben sein möchte, wandert sie 1947 mit ihrem späteren Ehemann François Molnár, der ebenfalls Künstler ist, nach Paris aus.
Hier kann sie sich schnell in die Pariser Künstlerszene eingliedern. Zu den Künstlern, die sie trifft, gehörten Constantin Brancusi, Wassily Kandinsky, Fernand Léger, Sonia Delaunay und Victor Vasarely.
In den ersten Jahren bis 1959 gilt ihr künstlerisches Interesse der geometrischen Abstraktion. Molnár erstellt seriell einfache Motive, die sich innerhalb der Serie jeweils leicht verändern. Die Arbeiten weisen mathematische bzw. konstruktive Kompositionsschemata auf wie zum Beispiel serielle Ordnungsprinzipien. Als Gestaltungsmerkmale finden sich unter anderem auch die Symmetrie oder die Wiederholung.
Seit 1946 sind ihre Werke gänzlich gegenstandslos und beziehen sich ausschliesslich auf sich selbst; denn es gibt gemäss Molnár weder symbolische oder metaphysische noch mystische Botschaften darin zu lesen.
Durch ihr Interesse für den Mechanismus des Sehens gelangt Molnár zur Beschäftigung mit einfachen Algorithmen: ab 1959 arbeitet sie an und mit der «machine imaginaire», mit der sie Forschung in der Kunst betreiben kann. So gelingen Molnár einfache Bildserien von Hand, nach vorgegebenen Kompositionsregeln wie Multiplikationsregeln und Einschränkungen. Die Serien sind begrenzt, in sich abgeschlossen und lassen keine einzige Farbkombination aus. Ihre Fragestellung ist beispielsweise, was mit einer geometrischen Form geschieht, wenn ein kleiner Bestandteil verändert wird und man davon viele minimal veränderte Varianten anfertigt.
Das Bemerkenswerte an Molnárs Kreationsweg besteht darin, dass sie in ihrer Vorstellung über einen Computer (die «machine imaginaire») verfügt und dafür einfache Programme generiert und diese nach den gängigen Regeln der modernen EDV-Technik nutzt, noch bevor überhaupt Computer vorhanden sind.
1960 gründet Molnár zusammen mit einigen anderen Kunstschaffenden, wie etwa Julio Le Parc, François Morellet und Yvaral (Jean-Pierre Vasarely), das Centre de Recherche d’Art Visuel in Paris. Ein Jahr später geht daraus die Groupe de Recherche d’Art Visuel hervor.
1967 ist Molnár Mitgründerin der ebenfalls in Paris domizilierten Groupe Art et Informatique.
1968 folgt ein Schritt, der für Molnárs Genese unabdingbar ist und den sie bereits 1959 vorweggenommen hat: Sie erhält über den französischen Computerhersteller Bull in Paris die Möglichkeit, mit dem Computer zu arbeiten. Üblicherweise sind in dieser Zeit Computer ausschliesslich für naturwissenschaftliche Berechnungen vorgesehen, doch für Molnár wird eine Ausnahme gemacht. Von der «machine imaginaire» gelangt sie dadurch nun zur «machine réelle». Später erlernt sie Fortran, die «Ursprache» der Programmierer, damit sie selbst so viel wie möglich für die Erarbeitung ihrer Kunst schaffen kann, und lässt damit den Computer Algorithmen erstellen. Zusammen mit ihrem Mann entwickelt sie 1974 die Programmiersprache MolnArt, die sie für ihre Arbeiten mit dem Quadrat bis 1976 verwendet. Die Maschine wird ihr wichtigstes Instrument, mit dem sie endlose Variationen ihrer geometrischen Formen und Linien umfassend untersuchen kann. Bei den ersten Arbeiten kann Molnár das Resultat ihres Programmierens noch nicht vorab am Bildschirm sehen; erst während der Entstehung durch das jeweilige Ausgabegerät wird das errechnete Bild sichtbar. Ab 1974 ist ihr Arbeitsgerät ein mit Bildschirm versehener Computer.
Bei der Gouache auf Karton Mutation du Rouge (Sienna à Rose) von 1966 untersucht sie die analytisch verschiedenen Farbabstufungen in einer aus drei gefüllten Kreisen bestehenden Komposition auf rotem Grund: Vom gelb-bräunlichen Rotton Siena im obersten Kreis geht es über einen lilafarbenen Rotton im mittleren Kreis zum kräftigen pinkfarbenen Rot im untersten Kreis. Bei dieser Anordnung wird deutlich, dass es bei den Untersuchungen von Molnár nicht nur um Wissenschaft und Systematik, sondern auch um ästhetische Gesichtspunkte und Harmonie geht. Ganz nebenbei stellt sie mit Rot die Farbe in den Vordergrund, für die sie eine über Jahrzehnte anhaltende Vorliebe hat.
In einer Reihe von Werken befasst sich Vera Molnár mit verschiedenen Buchstaben, weil sie deren Geometrie fasziniert. Die in Rot- und Orangetönen gehaltene Collage auf Karton Histoire D’I von 1967 ist ein gutes Beispiel hierfür. Die Künstlerin versucht in diesen Werken, die Form des Quadrats durch die Buchstaben aufzulösen bzw. nähert durch verschiedene Gestaltungsmittel einzelne Buchstaben und das Gesamtmotiv an das Quadrat an.
Die Beziehung zwischen Ordnung und Unordnung zieht sich wie ein roter Faden durch Molnárs Werk, wie die 1968 entstandene Komposition (Collage auf Karton) veranschaulicht: Die sechs Quadrate in Rot- und Blautönen, kontrastiert von Schwarz, scheinen durch ihre leichte Schrägstellung untereinander und den verschobenen Rand etwas aus dem Rahmen zu «fallen».
Ein wichtiger Faktor von Molnárs Kunst ist neben der systematischen Ordnung der Zufall. Denn nur dieser kann, gemäss der Künstlerin, die Intuition ersetzen. Nicht, weil durch den Zufall alles zur Kunst werden kann, sondern weil damit dem Künstler aufgezeigt wird, welche Wege er beschreiten kann – Wege, die er womöglich ohne den Zufall nicht finden würde.
Die Arbeit mit dem Computer ist wie dafür geschaffen und kann völlig unbeeinflusst eine Zufallswahl treffen.
Doch nicht immer lässt Molnár dem Computer freien Lauf, denn bei einigen von ihren Werken greift sie korrigierend ein und übernimmt sie selbst zumindest eine gewisse Vorentscheidung oder den gesamten Schritt, der in anderen Fällen vom Computer ausgeführt wird.
Am Werk Carrés sur Fond Vert (25A) von 1970 (Öl auf Leinwand) kann sehr gut nachvollzogen werden, wie Molnár den (teilweise beeinflussten) Faktor Zufall einsetzt. Zunächst trägt sie einen grünen Grund auf die Leinwand auf und zeichnet dünn mit Bleistift ein Gitter auf. Ein Wurf mit mehreren Würfeln bestimmt das zu bemalende Quadrat, im Anschluss entscheidet ein Würfel die verwendete/n Farbe/n, indem eine Zahl auf dem Würfel einer der drei von ihr verwendeten Farben entspricht. Für das nächste kleine Quadrat werden wieder zunächst mehrere, dann ein Würfel geworfen. Diese beiden Schritte sind tatsächlich komplett zufällig. Molnár lenkt aber die Gestaltung insofern, als sie so viele bemalte Quadrate wie möglich vom Rand des Bildes fernhält, um sie in der Mitte der Komposition zu konzentrieren.
Ihre Rezeptionsgeschichte beginnt 1973 mit ersten Gruppenausstellungen. Ihre erste Einzelausstellung hat Vera Molnár erst 1976 mit 52 Jahren in der Concourse Gallery der Polytechnic of Central London. Für ihr Debüt in Frankreich muss sie noch bis 1979 warten, als das Atelier de recherche esthétique in Caen die erste monographische Schau über Vera Molnár organisiert.
Auch wenn es Zeit brauchte, bis sich ihre Kunst durchsetzte, wird es an Auszeichnungen und Ehrungen deutlich, wie sehr ihr Werk in den letzten Jahrzehnten geschätzt und geachtet wird: 2005 erhält Molnár den ersten überhaupt vergebenen D.velop Digital Art Award; 2007 wird sie zum Chevalier des Art et Lettres ernannt; 2018 wird sie mit dem AWARE Award ausgezeichnet.
2022 ist sie in der Hauptausstellung der Biennale Venedig vertreten, wo eine Galerie ihren Arbeiten der 1970er und 80er Jahren gewidmet ist.
Vera Molnár lebt und arbeitet seit 1947 in Paris. Trotz ihrer altersbedingten Sehschwäche ist sie mit den neuen Entwicklungen in der digitalen Kunst vertraut und immer noch künstlerisch aktiv. Ihre digitalen Werke werden in Deutschland produziert.
Vera Molnár, 1924-
Vera Molnár was born in Budapest in 1924. Without siblings, she grew up in an educated middle-class household. From 1942 to 1947 she studied painting, art history and aesthetics at the Budapest Academy of Fine Arts. Molnár received a scholarship that enabled her to spend time in Rome. Because she wanted to be surrounded by modern, contemporary art, she emigrated to Paris in 1947 with her future husband François Molnár, who was also an artist.
Here she was quickly able to integrate herself into the Parisian artistic scene. Among the artists she met were Constantin Brancusi, Wassily Kandinsky, Fernand Léger, Sonia Delaunay and Victor Vasarely.
In the early years until 1959, her artistic interest was geometric abstraction. Molnár created serially simple motifs, each of which changes slightly within the series. The works exhibit mathematical or constructive compositional schemes such as serial ordering principles. Symmetry or repetition are also found as design features.
Since 1946, her works have been entirely non-objective and refer exclusively to themselves; according to Molnár, there are neither symbolic nor metaphysical nor mystical messages to be read in them.
Her interest in the mechanism of seeing led Molnár to work with simple algorithms: from 1959 she worked on and with the “machine imaginaire”, with which she could conduct research in art. In this way, Molnár succeeded in creating simple series of pictures by hand, according to predetermined rules of composition such as multiplication rules and restrictions. The series are limited, self-contained, and do not omit a single color combination. Her question was, for example, what happens to a geometric shape when one small component is changed and one makes many minimally changed variants of it.
The remarkable thing about Molnár’s way of creation is that in her imagination she had a computer (the “machine imaginaire”) and generated simple programs for it and used them according to the common rules of modern computer technology, even before computers existed.
In 1960, Molnár founded the Centre de Recherche d’Art Visuel in Paris together with several other artists, such as Julio Le Parc, François Morellet and Yvaral (Jean-Pierre Vasarely). One year later, the Groupe de Recherche d’Art Visuel emerged from this.
In 1967 Molnár co-founded the Groupe Art et Informatique, also based in Paris.
In 1968 a step followed that was indispensable for Molnár’s genesis and which she had already anticipated in 1959: she was given the opportunity to work with computers through the French computer manufacturer Bull in Paris. Usually, at this time, computers were intended exclusively for scientific calculations, but an exception was made for Molnár. From the “machine imaginaire” she now reached the “machine réelle”. Later she learned Fortran, the “primal language” of programmers, so that she herself could create as much as possible for the elaboration of her art, and with it she let the computer create algorithms. In 1974, together with her husband, she developed the programming language MolnArt, which she used for her works with the square until 1976. The machine became her most important tool, allowing her to comprehensively explore endless variations of her geometric shapes and lines. In her first works, Molnár could not yet see the result of her programming in advance on the screen; only during the creation by the respective output device did the calculated image become visible. From 1974 on, her working device was a computer equipped with a screen.
In the gouache on cardboard Mutation of Red (Sienna to Rose) from 1966, she examined the analytically different color gradations in a composition consisting of three filled circles on a red ground: from the yellow-brownish red tone sienna in the uppermost circle to a purple red tone in the middle circle to the strong pinkish red in the lowest circle. This arrangement makes it clear that Molnár’s investigations are not only about science and systematics, but also about aesthetic considerations and harmony. Quite incidentally, she foregrounds with red the color for which she has had a fondness that has lasted for decades.
In a series of works Vera Molnár dealed with different letters because she was fascinated by their geometry. The collage on cardboard Histoire D’I from 1967, in shades of red and orange, is a good example of this. In these works, the artist tried to dissolve the shape of the square through the letters, or rather, through various means of design, she approximates individual letters and the overall motif to the square.
The relationship between order and disorder runs like a thread through Molnár’s work, as illustrated by the 1968 Composition (collage on cardboard): the six squares in shades of red and blue, contrasted by black, seem to “fall out” of the frame somewhat due to their slight skew among themselves and the shifted edge.
An important factor of Molnár’s art, besides systematic order, is chance. Because only this can, according to the artist, replace intuition. Not because everything can become art by chance, but because it shows the artist which paths she or he can follow – paths that she/he would possibly not find without chance.
The work with the computer is made for this, and can make a random choice completely uninfluenced.
But Molnár did not always give the computer free rein, for in some of her works she intervened in a corrective way, taking over at least a certain preliminary decision or the entire step herself, which in other cases was carried out by the computer.
In the work Carrés sur Fond Vert (25A) from 1970 (oil on canvas) it can be understood very well how Molnár used the (partly influenced) factor of chance. First, she applied a green ground to the canvas and thinly draws a grid in pencil. A roll of several dice determined the square to be painted, then a die decided the color(s) used by having a number on the die correspond to one of the three colors she used. For the next small square, again several dice were rolled, then one. These two steps were in fact completely random. However, Molnár directed the design in that she kept as many painted squares as possible away from the edge of the painting in order to concentrate them in the center of the composition.
Her reception history begins in 1973 with the first group exhibitions. Vera Molnár did not have her first solo exhibition until 1976, at the age of 52, at the Concourse Gallery of the Polytechnic of Central London. For her debut in France she had to wait until 1979, when the Atelier de recherche esthétique in Caen organized the first monographic show on Vera Molnár.
Although it took time for her art to catch on, it is clear from awards and honors how much her work has been appreciated and respected in recent decades: in 2005, Molnár received the first ever D.velop Digital Art Award; in 2007, she was named Chevalier des Art et Lettres; in 2018, she received the AWARE Award.
In 2022, she was included in the main exhibition at the Venice Biennale, where a gallery is dedicated to her work from the 1970s and 80s.
Vera Molnár has lived and worked in Paris since 1947. Despite her age-related visual impairment, she is familiar with new developments in digital art and is still artistically active. Her digital works are produced in Germany.