Etienne (István) Beöthy, 1897–1961
István Beöthy wird 1897 im ungarischen Heves geboren. Er durchläuft die Schule und schliesst diese mit dem Abitur ab.
1915 wird er mit 18 Jahren zum Kriegsdienst eingezogen. Nach einer 1916 erlittenen Kopfverletzung und dem Ende seines Kriegsdienstes, beginnt Beöthy 1918 Architekturkurse der Technischen Hochschule in Budapest zu besuchen, ohne jedoch regulär eingeschrieben zu sein. Er trifft auf Moholy-Nagy und hat Kontakt zu den Künstlern des Kreises «MA» (ungarisch «Heute») um Lajos Kassák, die sich weitgehend an den Maximen des Konstruktivismus und des Suprematismus orientieren. Die Bildhauerei fasziniert ihn und er besucht 1919 die freie Kunstschule von József Rippl-Rónai.
1919 geht Beöthy seine erste Ehe ein mit der aus Brașov stammenden Adalberta Panczel. Aus dieser gehen 1920 und 1924 zwei Kinder hervor.
Künstlerisch beginnt Beöthy, figurative und schwungvolle Skulpturen zu entwickeln, deren harmonischer Rhythmus durch die Prinzipien der bekannten «Série d’Or» («Goldene Serie») bestimmt wird. Die erste Version entsteht bereits 1919 und wird später in verschiedenen Grössen und Varianten gefertigt.
1920 bricht er seine Architekturstudien ab, um sich bis 1924 an der Kunstschule einzuschreiben, wo er Skulptur studiert.
Dank einem Reisestipendium kann er Deutschland, Österreich, England, Italien und Frankreich besuchen. Nach seiner Rückkehr in Ungarn beschliesst er Ende 1925, sich in Paris niederzulassen.
In Paris wird er zu einem Protagonisten der abstrakten Avantgarde und zu einem Pionier der nicht figürlichen Skulptur. Nach einiger Zeit kann Beöthy Erfolge feiern und stellt seine Werke im Salon des indépendants, im Salon d’Automne und im Salon des Tuileries aus.
1927 nimmt er, durch die Bitte einer gemeinsamen Bekannten, Anna Krausz bei sich auf, eine ungarische Malerin. Sie werden ein Paar und bekommen zwei Töchter, die 1944 und 1949 geboren werden. Seine Lebensgefährtin Anna, die selbst bis 1937 als Künstlerin tätig ist, signiert ihre Werke mit einer Kombination aus dem Namen von István Beöthy und demjenigen ihrer Mutter: Anna Beöthy-Steiner.
Beöthy selbst signiert seine Werke mit Étienne Beöthy – dies ist ist die französische Namensvariante von István und eine ältere Spielart von Stéphane.
1928 hat Étienne Béothy seine ersten Einzelausstellungen in der Galerie Sacre du Printemps und 1929 in der Galerie Zak. Er nimmt auch an der Ausstellung Production Paris 1930 der Galerie Wolfsberg in Zürich teil. 1931 stellt er zweimal in der Galerie Bonaparte in Paris aus und wird in die Galerie de L’Effort moderne von Léonce Rosenberg eingeführt, für die er bis 1939 der «Bildhauer der Galerie» bleibt.
Beöthy ist 1931 – unter anderem mit Auguste Herbin, Georges Vantongerloo, František Kupka – Gründungsmitglied der Künstlergruppe Abstraction-Création und von 1932 bis 1936 gar deren Vizepräsident. Er bringt vor allem den intellektuellen Aspekt in die Gruppe ein.
1936 heiraten Anna Krausz und István Beöthy.
1938 organisiert Béothy die erste französisch-ungarische Ausstellung abstrakter Kunst in Budapest und hält einen Vortrag über «Das Problem der Schöpfung». Darin stellt er seine Theorie der bildhauerischen Harmonie vor, die auf der Anwendung einer Skala von zwölf Serien beruht. Beöthy weist damit nach, dass jedes Kunstwerk einen mathematischen Ausgangspunkt hat. Seine Rede wird 1938 als Buch «Le problème de la création» vom Pariser Verlag Chanth herausgegeben. Ein Jahr später gibt der gleiche Verlag «La Série d’Or» heraus – und damit Beöthys Theorien, die er bereits 1919 niedergeschrieben hat.
1946 wird Beöthy Gründungsmitglied des Salon des réalités nouvelles. Einige Jahre später, 1956, wird er dessen Vizepräsident. Im selben Jahr lässt er die Gruppe der ungarischen Künstler der Résistance in Paris, deren Vorsitzender er ist, von der UNESCO zur Internationalen Ausstellung für moderne Kunst einladen.
1947 eröffnet er eine Einzelausstellung in der Galerie Denise Renée Paris und im Jahr darauf eine grosse retrospektive Ausstellung seines Werks in der Galerie Maeght. Auf Einladung der Union des artistes modernes wird er Mitglied des Komitees dieser Organisation.
1951 verfasst Beöthy mit Fernand Léger und Le Corbusier die erste Ausgabe von «Formes et Vie» und gründet mit Félix Del Marle und André Bloc die Gruppe Espace.
1952/1953 beauftragt ihn der Architekt Guy Lagneau, an der École des beaux-arts de Paris Kurse für Architekturstudenten zu «Couleurs et Proportions» zu halten.
1954 trennt sich Beöthy von seiner Frau Anna. Er findet ein Atelier im selben Gebäude, um in der Nähe seiner Familie zu bleiben.
Bis zu seinem Tod im November 1961 nimmt er an zahlreichen Ausstellungen in und ausserhalb Frankreichs teil.
Beöthys künstlerisches Werk ist stark von seinen theoretischen Schriften beeinflusst. Diese schreibt er bereits sehr früh nieder – veröffentlicht wird der Text aber erst 20 Jahre später (1939 beim Verlag Chanth). Beöthy erörtert und entwickelt komplexe Theorien und Berechnungen, die – ausgehend vom Goldenen Schnitt – zu perfekter Harmonie und idealen Proportionen führen. Die Proportionen, die sich aus den namensgebenden Berechnungen ergeben, sind im Buch «La Série d’Or» auf S. 51 (oben) abgebildet; das Werk «Série d’Or» von 1919 (Bronze) ist eine exakte Verkörperung dieser Proportionen und nimmt mit der geometrischen Strenge seiner Säulen einen Aspekt der Architektur der 1920er Jahre vorweg. Zugleich ist es ein Schlüsselwerk von Beöthys mathematischer Theorie der «Série d’Or».
Seine mathematischen Erforschungen reduzieren die Formen des menschlichen Körpers, der natürlich-organische Charakter bleibt jedoch erhalten. Die Figuren können aus Edelholz geschnitzt, in Bronze gegossen oder aus Steinguss gefertigt sein. Sie sind oft sehr schlank, scheinen dem Himmel entgegenstreben zu wollen und können auch an im Moment eingefangene Flammen erinnern. «Femme Supérieure» (Bronze, Nachguss nach dem Gips von 1929) geht ebenfalls auf seine Überlegungen der «Série d’Or» zurück, wie das im 1939 erschienenen Buch abgebildete männliche Pendent belegt (S. 64). Die «Femme Supérieure» lässt sich sogar in seinem malerischen Werk wieder erkennen: In der Komposition (ohne Jahr, Gouache auf Papier) kombiniert er die organischen Formen mit einer äusserst harmonischen Farbpalette. Ebenfalls nimmt der Steinguss «La Femme Positif-négatif» (1929) das Thema des Körpers auf.
Vielfach ist die Spirale als Grundform zu entdecken, von der aus Beöthy die meisten seiner Einzelkonzeptionen entwickelt. Die beiden Bronzeskulpturen von 1959 «La Mouette» («Die Möwe») sowie «Grande Mouette» («Grosse Möwe») beinhalten viele Gesichtspunkte dieser Spiraldynamik.
Mit dem Bronzeguss «Icarus, Monument für einen Piloten» (ohne Jahr) nimmt Beöthy auch Bezug auf einen figürlichen Inhalt, ohne jedoch den menschlichen Körper darzustellen, sondern nur einen leicht abstrahierten Teil eines Flugzeugs.
Gemeinsam ist allen Skulpturen Beöthys eine aussergewöhnliche Ästhetik und eine fast unübertroffene Vollkommenheit.
Auch in seinen Gouachen – «Composition abstraite» (1951, Gouache auf Papier), «Métaplastique XVI» (1959, Gouache auf Papier), «Komposition mit Kreisen» (1961, Gouache auf Papier) sowie «Komposition» (ohne Jahr, Gouache auf Karton) – ist die Suche nach perfekter Harmonie und idealen Proportionen nachgezeichnet. Seine Papierarbeiten weisen eine äusserst stimmige Farbskala auf und verbinden diese mit abstrakter Kunst, ohne jedoch auf die für Beöthy so bedeutsamen organischen Formen zu verzichten.
Etienne (István) Beöthy, 1897–1961
István Beöthy was born in 1897 in Heves, Hungary. He went through school and graduated.
In 1915, at the age of 18, he was drafted into military service. After a head injury sustained in 1916 and the end of his military service, Beöthy began attending architecture courses at the Technical University in Budapest in 1918, but without being regularly enrolled. He met Moholy-Nagy and had contact with the artists of the «MA» (Hungarian for «Today») circle around Lajos Kassák, who largely followed the maxims of Constructivism and Suprematism. Sculpture fascinated him and he attended József Rippl-Rónai’s free art school in 1919.
In 1919 Beöthy entered into his first marriage with Adalberta Panczel from Brașov. They had two children in 1920 and 1924.
Artistically, Beöthy began to develop figurative and sweeping sculptures whose harmonious rhythm was determined by the principles of the well-known «Série d’Or» («Golden Series»). The first version was created as early as 1919 and was later made in various sizes and versions.
In 1920 he abandoned his architectural studies to enrol at art school until 1924, where he studied sculpture.
Thanks to a travel grant, he was able to visit Germany, Austria, England, Italy and France. After returning to Hungary, he decided to settle in Paris at the end of 1925.
In Paris he became a protagonist of the abstract avant-garde and a pioneer of non-figurative sculpture. After some time, Beöthy was able to celebrate successes and exhibited his works at the Salon des indépendants, the Salon d’Automne and the Salon des Tuileries.
In 1927, at the request of a mutual acquaintance, he took in Anna Krausz, a Hungarian painter. They became a couple and had two daughters, born in 1944 and 1949. His partner Anna, herself an artist until 1937, signed her works with a combination of István Beöthy’s name and that of her mother: Anna Beöthy-Steiner.
Beöthy himself signed his works with Étienne Beöthy – this is the French variant of István’s name and an older variant of Stéphane.
In 1928 Étienne Béothy had his first solo exhibitions at the Galerie Sacre du Printemps and in 1929 at the Galerie Zak. He also took part in the 1930 Production Paris exhibition at the Wolfsberg Gallery in Zurich. In 1931 he exhibited twice at the Galerie Bonaparte in Paris and was introduced to the Galerie de L’Effort moderne by Léonce Rosenberg, for whom he remained the «sculptor of the gallery» until 1939.
In 1931, Beöthy was a founding member of the artists’ group Abstraction-Création – together with Auguste Herbin, Georges Vantongerloo and František Kupka, among others –and was even its vice-president from 1932 to 1936. He brought above all the intellectual aspect to the group.
In 1936 Anna Krausz and István Beöthy married.
In 1938, Béothy organised the first Franco-Hungarian exhibition of abstract art in Budapest and gave a lecture on «The Problem of Creation». In it he presented his theory of sculptural harmony based on the application of a scale of twelve series. Beöthy thus proved that every work of art has a mathematical starting point. His speech was published in 1938 as the book «Le problème de la création» by the Parisian publisher Chanth. One year later, the same publisher published «La Série d’Or» – and with it Beöthy’s theories, which he had already written down in 1919.
In 1946, Beöthy became a founding member of the Salon des réalités nouvelles. A few years later, in 1956, he became its vice-president. In the same year, he had the group of Hungarian artists of the Resistance in Paris, of which he was chairman, invited by UNESCO to the International Exhibition of Modern Art.
In 1947 he opened a solo exhibition at the Galerie Denise Renée Paris and the following year a large retrospective exhibition of his work at the Galerie Maeght. At the invitation of the Union des artistes modernes, he became a member of the committee of this organisation.
In 1951 Beöthy wrote the first edition of «Formes et Vie» («Forms and Life») with Fernand Léger and Le Corbusier and founded the group Espace with Félix Del Marle and André Bloc.
In 1952/1953 the architect Guy Lagneau commissioned him to give courses on «Couleurs et Proportions» («Colours and Proportions») for architecture students at the École des beaux-arts de Paris.
In 1954 Beöthy separated from his wife Anna. He found a studio in the same building to stay close to his family.
Until his death in November 1961, he participated in numerous exhibitions in and outside France.
Beöthy’s artistic work is strongly influenced by his theoretical writings. He wrote these down very early on – but the text was not published until 20 years later (1939 by the Chanth publishing house). Beöthy discusses and develops complex theories and calculations that – starting from the Golden Section – lead to perfect harmony and ideal proportions. The proportions resulting from the eponymous calculations are illustrated in the book «La Série d’Or» on p. 51 (above); the work «Série d’Or» from 1919 (bronze) is an exact embodiment of these proportions and anticipates an aspect of 1920s architecture with the geometric rigour of its columns. At the same time, it is a key work of Beöthy’s mathematical theory of the «Série d’Or».
His mathematical explorations reduce the forms of the human body, but the natural-organic character remains. The figures can be carved from precious wood, casted in bronze or made of cast stone. They are often very slender, seeming to strive towards the sky, and can also resemble flames caught in the moment. «Femme Supérieure» («Superior Woman»; bronze, re-cast after the 1929 plaster) also goes back to his reflections on the «Série d’Or», as evidenced by the male counterpart illustrated in the book published in 1939 (p. 64). The «Femme Supérieure» can even be recognised in his painterly work: In the composition (not dated, gouache on paper), he combines the organic forms with an extremely harmonious colour palette. Likewise, the stone cast «La Femme Positif-négatif» («The Woman Positive-negative»; 1929) takes up the theme of the body.
The spiral can often be discovered as the basic form from which Beöthy developed most of his individual concepts. The two bronze sculptures from 1959 «La Mouette» («The Seagull») and «Grande Mouette» («Big Seagull») contain many aspects of this spiral dynamic.
With the bronze casting «Icarus, Monument for a Pilot» (no year), Beöthy also refers to a figurative content, without, however, depicting the human body, but only a slightly abstracted part of an aircraft.
What all Beöthy’s sculptures have in common is an extraordinary aesthetic and an almost unsurpassed perfection.
The search for perfect harmony and ideal proportions is also traced in his gouaches – «Composition abstraite» (1951, gouache on paper), «Métaplastique XVI» («Metaplastic XVI»; 1959, gouache on paper), «Composition with Circles» (1961, gouache on paper) and «Composition» (not dated, gouache on cardboard). His works on paper have an extremely coherent colour scale and combine this with abstract art, but without renouncing the organic forms that are so significant for Beöthy.